Sie haben Johann Betz ermordet

Johann Betz lebte als Schuhmacher in der Solalindenstraße in Neutrudering im Osten Münchens. Bis ihn das „Wohlfahrts- und Stiftungsreferat München, Abteilung wirtschaftliche Fürsorge“ nach Dachau schickte, da war er 39 Jahre alt. Drei Jahre später war er tot.

Wir wissen sonst nicht viel über ihn. Uns ist kein Bild von ihm bekannt und keine Nachfahren. Er war verheiratet mit Maria Betz. Seine Mutter war Therese Betz, ledig. Vermutlich hatte er es nicht leicht im Leben.

Aber was für eine Wohlfahrt schickt Menschen, für die sie sorgen soll, ins KZ?

Das war, was die Nationalsozialisten unter „Sozialpolitik“ verstanden. Die Menschen wurden sortiert anhand ihrer Nützlichkeit für die „Volksgemeinschaft“. Die Guten bekamen Freizeiten von „Kraft durch Freude„. Den Aussortierten wurde die Unterstützung gestrichen und sie sollten verschwinden, bei vielen wurde ihre Arbeitskraft noch ausgebeutet auf dem Weg dahin. Das ist eine Verfolgungsgeschichte, über die lange wenig gesprochen wurde: die der „Gemeinschaftsfremden“ oder „Asozialen“.

Unter diesen Begriffen sammelten die Nationalsozialisten alle, die ihnen nicht passten, auch wenn sie zur „richtigen Rasse“ gehörten: Landstreicherinnen, Bettler, bei den Frauen oft Prostituierte, bei den Männern solche, die viel Alkohol tranken oder als arbeitsscheu galten. Unangepasste, Depressive, Wohnungslose.

  1. Vor der Nazizeit: Von den „schlechten Armen“ zu den „Berufsverbrechern“
  2. Die Nazis und die Sozialpolitik
  3. Die Wohlfahrtsamt in München: Friedrich Hilble
  4. Johann Betz: Die Dokumente
  5. Die Rückkehr der Namen

Vor der Nazizeit: Von den „schlechten Armen“ zu den „Berufsverbrechern“

Armut gab es natürlich schon immer, aber im Europa des Mittelalters wurde den Betroffenen daraus noch kein Strick gedreht. Das änderte sich mit der Pest im 14. Jahrhundert, wie es in einem einem Artikel aus Spiegel Geschichte 2/2023 beschrieben wird. Armut wurde zunehmend in die Nähe der Kriminalität gerückt. Und es wurde unterschieden zwischen guten Armen – den sogenannten „schwachen Bettler“ wie Witwen, Alte und Kranke – und schlechten Armen, von denen man annahm, dass sie arbeiten könnten. Sie wurden in Arbeitshäuser gesteckt, wo sie der Willkür der Aufseher ausgeliefert waren.

In dieser Denkweise ging es weiter bis in die preußische Zeit. Laut Paragraph 361 des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 galt:

Mit Haft wird bestraft:

[…]
4. wer bettelt […]
5. wer sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt hingibt, daß er in einen Zustand geräth, in welchem zu seinem Unterhalte oder zum Unterhalte derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittelung der Behörde fremde Hülfe in Anspruch genommen werden muß;
[…]

Dieser strafende Blick auf Arme wurde weiter verschärft durch eine Strömung in der Kriminalistik, die ein Bild von einem geborenen Verbrecher aufbaute, der so degeneriert und primitiv sei, dass er kein anderes Leben führen könne. Diese Vorstellungen passten perfekt auf Vorstellungen von „Rassenhygiene“. Diese Vorstellungen verbreiteten und verfestigten sich im Ersten Weltkrieg und zur Zeit der Weimarer Republik, hatten damals aber noch keinen großen Einfluss auf die Praxis.

Die Nazis und die Sozialpolitik

Aber dann kamen die Nazis, und für sie war die Sozialpolitik ein zentrales Thema. Annette Eberle schreibt im Artikel „NS-Gesundheitspolitik“ im nsdoku.lexikon :

Einer der ersten Bereiche, der von der nationalsozialistischen Diktatur ideologisch und mittels einschneidender repressiver politischer Maßnahmen gleichermaßen besetzt wurde, war die Sozialpolitik. Mit den erstmals in der Weimarer Republik etablierten sozialstaatlichen Grundsätzen, die auf Solidarität und individueller Förderung beruhten, sollte gebrochen und das soziale Miteinander nun vorrangig auf die Prinzipien der Erb- und Rassenpolitik ausgerichtet werden. Damit gemeint war der permanente Kampf der ‚Höherwertigen‘ gegen die ‚Minderwertigen‘, der nicht nur das Vorgehen gegen Angehörige fremder Rassen, sondern auch gegen Zugehörige der eigenen zum Ziel hatte.

Dieser Kampf richtete sich nicht gegen Taten oder Gewohnheiten wie Betteln oder Alkoholsucht, sondern gegen die Menschen selbst. Der Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ wurde 1935 mit der Änderung des Reichstrafgesetzbuches auf den Kopf gestellt. § 2 StGB besagte:

Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.

Die repressive, normierende Sozialpolitik war den Nazis so wichtig, dass sie noch im Krieg das „Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder“ auf den Weg brachten und es am 30. Januar 1945 in Kraft treten lassen wollten. Es hätte so ziemlich alle mit drastischen Strafen bedroht, die kein nationalsozialistisches Bilderbuchleben führen.

Die Wohlfahrtsamt in München: Friedrich Hilble

Der Leiter des Wohlfahrtsamt München war Friedrich Hilble, Mitglied der Bayrischen Volkspartei. Er hatte schon vor 1933 darauf gedrängt, „Asoziale“ wegzusperren. Das war in der Weimarer Republik rechtlich möglich, wurde aber in der Praxis in Bayern nicht umgesetzt. Zu den üblichen Repressalien gegen als „asozial“ eingestufte Fürsorgeempfänger*innen gehörte, dass sie nur 80 Prozent der üblichen Unterstützung erhielten, die ihnen außerdem nicht in bar, sondern in Naturalien ausbezahlt wurden (Wimmer, Florian: „Die völkische Ordnung von Armut“ Göttingen, Wallstein Verlag 2014, ISBN 978-3-8353-1402-3, S. 283).

Unter den Nationalsozialisten wurden Internierungen zum wichtigsten Instrument der „Asozialenverfolgung“. Dafür waren Polizei und Gerichte zuständig. Das Münchner Wohlfahrtsamt arbeitete ihnen zu, und das mit großem Eifer. Im September 1933 fragte das Wohlfahrtsamt an, „ob es möglich sei, arbeitsscheue Elemente in Schutzhaft zu nehmen und sie ev. Arbeitslagern zuzuführen“ (Wimmer S. 285). Im März 1934 stimmte die Polizeidirektion zu. Hilble drängte weiter auf energischeres Vorgehen und die Möglichkeit für das Wohlfahrtsamt, selbst „Asoziale“ einzuweisen. Im Oktober 1934 hatte er damit Erfolg: Das Konzentrationslager Dachau wurde zu einer Arbeitsanstalt im Sinne § 20 der Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht erklärt. Florian Wimmer schreibt (S. 287):

Unter erheblicher Beteiligung der Münchner Sozialverwaltung erhielten die bayerischen Kommunen dadurch die zu diesem Zeitpunkt reichsweit härteste Repressionsmöglichkeit gegen männliche „Asoziale“.

In diese Mühlen geriet Johann Betz. Die zugrundeliegende Vorstellung von Wohlfahrt wird deutlich in einem Vortragsmanuskript Hilbles, aus dem Florian Wimmer zitiert (S. 417):

Bei der Entscheidung über einen Unterstützungsfall wird jetzt wieder die Frage gestellt, ob Würdigkeit oder Unwürdigkeit vorliegt, ob es sich um einen wertvollen oder minderwertigen Menschen handet, ob der Gesuchsteller bei gutem Willen allenfalls unter Anleitung der Fürsorge, sich selbst und seine Familie helfen kann oder nicht. Schmarotzer der Fürsorge, Ausnützer der Fürsorge werden mit allen Mitteln bekämpft und ausgeschieden.

Friedrich Hilble starb 1937 an einem Gallenleiden. Im Jahr 1956 wurde eine Straße in München Neuhausen-Nymphenburg nach ihm benannt. Die Bayerische Staatszeitung schrieb 2012:

„Ein verdienter Leiter des städtischen Wohlfahrts- und Jugendamtes“ sei Hilble (1881 bis 1937) gewesen, heißt es in der damaligen offiziellen Begründung zur Straßenbenennung.

Ab 2012 drängte der Verein Geschichtswerkstatt Neuhausen und das Projekt Memory Gaps darauf, diese Ehrung zu beenden. 2022 wurde die Straße umbenannt in Maria-Luiko-Straße.

Johann Betz: Die Dokumente

Das erste Dokument, das uns von der Verfolgungsgeschichte von Johann Betz erzählt, ist eine „Niederschrift über die Sitzung der Beiräte für Einzelfürsorgeangelegenheiten ‚Spruchbeiräte‘ vom 23. April 1937“ vom „Wohlfahrts- und Stiftungsreferat, Abteilung Wirtschaftliche Führsorge“. Johann Betz wird für 6 Monate nach Dachau geschickt. Warum? Das kann ich diesem Dokument nicht entnehmen.

Das nächste Dokument ist eine Schreibstubenkarte von 1937/1938. Darauf sind mehrere Inhaftierungen innerhalb des KZ vermerkt (K.A. = Kommandanturarrest). Wieder gibt es keine Begründung.

Am 26.05.1938 wurde Johann Betz in das KZ Buchenwald überstellt. Dort war er Häftling Nummer 4430. Oben links ist „ASR“ vermerkt für „Arbeitsscheu Reich“. Das deutet auf die Verhaftungswelle „Aktion Arbeitsscheu Reich“ von 1938 hin.

Auf dem nächsten Dokument bestätigt Johann Betz mit seiner Unterschrift 1 Hut, 1 Rock, 1 Hose, 2 Pullover, 1 Hemd, 1 Paar Schuhe und 1 Paar Strümpfe abgegeben zu haben.

Seine Unterlagen bestanden aus 6 Dokumenten: 1 Effektenkarte, 1 Schreibstubenkarte, 1 Häftlingspersonenbogen, 1 Nummernkarte, 1 Todesmeldung und 1 Korrespondenz.

Am 7.4.1940 wird der Tod von Johann Betz gemeldet, angeblich „Herztod im Anfall (Angina pectoris)“. Das haben sie gerne auf Todesurkunden geschrieben.

Johann Betz hinterließ einen Pullover.

Den einen hinterlassenen Pullover haben die Nazis belegt. Aber nicht die wirkliche Todesursache. Nicht den Verhaftungs“grund“. Nicht, warum sie Johann Betz, geboren am 26. November 1897, katholisch, verheiratet, Schuhmacher, nicht einfach haben weiterleben lassen in München Neutruderling, Solalindenstraße 16.

Die Rückkehr der Namen

Am 11. April 2024 standen 1000 Münchner/innen mit Schildern auf der Straße, um an 1000 Münchner/innen zu erinnern, die vom NS-Regime verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Ich durfte an Johann Betz erinnern.

Vielen Dank für das Projekt „Die Rückkehr der Namen“ an den Bayrischen Rundfunk.

Und vielen Dank an:

Vielen Dank an den Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. und die Friedrich Ebert Stiftung München für die Matinée im Vorfeld des Projekttages.

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