Margot Linsert, Laimer Widerstandskämpferin

Ich habe im letzten Jahr drei Entdeckungen gemacht: Margot Linsert, Katrin Seybold und den ISK.

Margot Linsert

Alles fing an im Frühjahr 2021 an mit dem KulturGeschichtsPfad Laim. Er informiert über den Widerstand im Lebensmittelgeschäft Linsert in der Fürstenriederstraße 46:

An der Fürstenrieder Straße 46 stand ein kleines Lebensmittelgeschäft, das in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft von dem Ehepaar Margot und Ludwig Linsert betrieben wurde. Die beiden gehörten dem »Internationalen Sozialistischen Kampfbund« (ISK) an, einer Gruppierung der Arbeiterbewegung, die 1933 in den Untergrund abtauchen musste. Die Linserts entschieden sich für den aktiven Widerstand und verteilten z.B. Flugblätter unter Einsatz ihres Lebens. Als die süddeutsche Gruppe des ISK im Sommer 1938 aufflog, konnte Margot Linsert sich vor der Gestapo als scheinbar unwissende junge Mutter präsentieren. Auch ihr Mann überlebte seine Haftzeit und wurde später bayerischer Landesvorsitzender des DGB.

KulturGeschichtsPfad Laim, S. 33

Wie großartig, Widerstandskämpfer*innen in Laim! Aber was ist dieser „ISK“? Und was wurde aus Margot Linsert? Auf Wikipedia gab es keinen Artikel über sie, über ihren Mann und andere männliche Mitkämpfer schon. Das konnte ich nicht stehen lassen, und so stürzte ich mich in die Recherche.

Auf der Website des DGB entdeckte ich einen Nachruf auf die im Alter von 100 Jahren verstorbene Margot Linsert. Also schrieb ich den DGB an und wurde von ihm weitergereicht an das Archiv der Münchner Arbeiterbewegung in Hadern.

Dieses Archiv hat mich entscheidend weitergebracht. Sie haben dort Papiere aus dem Nachlass, beispielsweise Schul- und Arbeitszeugnisse von Margot Linsert. Außerdem zeigten sie mir einen Dokumentarfilm von Katrin Seybold aus den 90er Jahren, in dem Margot Linsert als Zeitzeugin berichtet. Ich war fasziniert von der alten Dame.

Katrin Seybold

Zugleich war ich beeindruckt von der Filmemacherin Katrin Seybold. Leider ist auch sie bereits verstorben. Die Filmrechte gingen an das Münchner filmmuseum, das DVDs mit ihren Dokumentarfilmen zum Thema „Widerstand in München“ auch verkauft. Im Begleitheft schreibt Katrin Seybold (online hier nachzulesen):

Die meisten Zeugen mussten viel Überwindung aufbringen, um sich hier zeigen zu können. Dieses Filmen erinnerte sie an Erfahrungen, die wieder aufleben zu lassen keineswegs immer befreiend wirkte. Durchweg waren es die Frauen, die ihren Anteil an den Aktionen für unbedeutend hielten, sie haben sozusagen sich selbst an den Rand der Geschichte gedrängt; auch wenn ihre Taten sehr couragiert waren, erschien ihnen ihre eigene Lebensgeschichte nicht erzählenswert angesichts derer, die ihr Leben verloren hatten.

[…]

Für den Erinnerungsprozess ist es notwendig, dass die Fragerin eine Fremde bleibt […]

Voraussetzung für die Offenheit der Zeugen sind Anteilnahme und Hinwendung zu den mir – nennen wir es so – zeitweise Ausgelieferten. Für einen kurzen Moment löse ich Trauer, Abwehr, Schmerz, selten Freude aus. Oft ernte ich dafür Wut, Ärger, Zorn. Und, es mag paradox klingen, die Zeugen, mit denen ich mich am meisten „gestritten“ habe, sind im Film die Eindrücklicheren.

Begleitheft Edition filmmuseum 100, ursprünglich: Katrin Seybold. „Zeitgeschichtlicher Film und Geschichtswissenschaft“. Vortrag zum 75 . Geburtstag von Hans Mommsen

War Margot Linsert eine dieser Zeitzeuginnen, mit denen sich Katrin Seybold „gestritten“ hat? Sie war sicher eine von denen, die sich „selbst an den Rand drängten“. Sie zog sich nach dem Krieg zurück und wurde auch nicht gefragt. Mit Katrin Seybold wollte sie erst nicht sprechen, aber die ließ sich nicht abweisen, sondern fuhr zu Frau Linserts Haus und stand am Gartentor, bis sie hereingelassen wurde.

Übrigens: Die Archivare mögen Katrin Seybold nicht. Sie hat ihren Bestand nicht ordentlich katalogisiert und wohl auch Entliehenes nicht zurückgegeben. Ein Tipp für alle, deren Nachlass einmal für Archive interessant werden könnte und die Wert auf ihre posthume Reputation legen: Verärgert nie die Archivare.

Für mich ist dieser Aspekt irrelevant. Katrin Seybold hat einfach umwerfend gute Filme gemacht.

Noch einmal zurück zu Margot Linsert

Margot Linsert muss als junge Frau hochpolitisch gewesen sein. Sie kam ursprünglich aus Berlin, aus einer stolzen linken Arbeiterfamilie. In der Schule gehörte sie zu den zwei Klassenbesten. Sie engagierte sich in mehreren Jugendgruppen und trat in den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) ein (dazu später mehr). Dort wurde sie Jugendgruppenleiterin und ging nach München, um dort eine neue Gruppe aufzubauen. Nach dem Verbot des ISK 1933 arbeitete sie über fünf Jahre lang unentdeckt illegal gegen die Nazis wie oben beschrieben.

Und nach 1945? Ihr Mann Ludwig Linsert engagierte sich im DGB, 1950 wurde er Münchner Kreisvorsitzender und 1958 Landesvorsitzender für Bayern. Margot Linsert aber zog sich ganz aus der Politik zurück. Das zu begreifen fällt mir schwer. Natürlich denkt man an die tradierte Frauenrolle, sowohl während des Krieges als auch danach. Und an Traumatisierung, an die Angst um den Ehemann, die Töchter, die Mitstreiter*innen, um sich selbst und davor, jemanden zu verraten.

Wichtig für das Verständnis ist außerdem Folgendes: Der Druck auf die Familie Linsert ging auch nach dem Krieg weiter. Natürlich nicht so wie unter den Nazis, aber es gab keine „Stunde Null“ und erst recht keinen Triumph des Guten und mit Erleuchtung der ganzen Gesellschaft. Die Widerstandskämpfer*innen waren weiterhin eine kleine Minderheit in einem Meer von ehemaligen Mitläufer*innen und Täter*innen. Gerade der linke Widerstand war weiterhin verdächtig, denn links waren auch die Kommunisten.

General George S. Patton, der sein Amt [als Generalgouverneur für Bayern] im Juli 1945 antrat […] gelangte zu der Überzeugung, dass die Entnazifizierung unter den gegebenen Umständen unklug sei. Wie [Oberbürgermeister] Scharnagl hielt auch er ehemalige Nationalsozialisten für eine vernachlässigbare Gefahr im Vergleich zu den Kommunisten. Die bisherige Politik der Aliierten führe, so erklärte er, zu Verfolgung einer „ziemlich guten Rasse“ und zur Auslieferung Deutschlands an „mongolische Barbaren“. Er tat alles in seiner Macht stehende, um in seinem Einflußbereich die Entlassung von ehemaligen Nationalsozialisten zu bremsen, und holte einige von ihnen sogar in seinen eigenen zivilen Mitarbeiterstab.

David Clay Large: Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung. S. 442 der deutschen Ausgabe.

Für mich als Münchnerin des 21. Jahrhunderts ist es unfassbar, wie lange es gedauert hat, bis sich die Aufarbeitung durchgesetzt hat, die mir heute selbstverständlich ist. Die KZ-Gedenkstätte Dachau beispielsweise wurde erst zwei Jahrzehnte nach der Befreiung des Lagers eröffnet.

Der ISK = Internationaler Sozialistischer Kampfbund

Meine dritte Entdeckung ist der ISK, der Internationale Sozialistische Kampfbund. Er wurde von dem Philosophieprofessor Leonard Nelson gegründet. Vernunft, Sozialismus, Ethik und Recht waren seine Leitideen. Erst gründete er den Internationalen Jugend-Bund (IJB). Als dieser 1925 von der SPD als unvereinbar aus ihren Gruppen verbannt wurde, gründete der Vorstand den ISK. 1927 starb Leonard Nelson mit nur 45 Jahren.

Der ISK verlangte viel von seinen Mitgliedern: Kein Alkohol, kein Fleisch, Austritt aus der Kirche; viele Schulungen, aktive Mitarbeit, regelmäßige Berichte und strenge Disziplin. Bindungen und Kinder waren nicht verboten, galten aber als Störfaktoren. Ludwig Linsert wurde zeitweise wegen „Disziplinlosigkeit“ ausgeschlossen, weil er nach einem Parteitag nicht sofort nach München zurückgekehrt, sondern zu einem Verwandtenbesuch nach Berlin gefahren war (Quelle: „Verfolgung und Widerstand“)

Das war viel verlangt, und so kam der ISK nie über 300 Mitglieder hinaus. Andererseits war der ISK dadurch ideal vorbereitet für die Arbeit in der Illegalität. Die Mitglieder kannten und vertrauten sich und waren bestens ausgebildet.

Hinzu kam, dass der ISK den historischen Determinismus von Marx ablehnte. Dadurch erkannte er klar die Gefahr einer langjährigen Diktatur. Zur Vorbereitung darauf teilte er sich in 5er-Gruppen auf. Es mussten Decknamen benutzt, Warnsignale vereinbart und Material zuhause vernichtet werden, was in gegenseitigen Hausdurchsuchungen kontrolliert wurde.

Das Ganze hatte etwas Sektenhaftes, aber die Organisation fasziniert mich trotzdem und macht mich offen gestanden neidisch. Eine Gruppe ohne Karteileichen, aktiv und schlagkräftig, mit philosophischem Fundament, das muss etwas ganz Besonderes gewesen sein. Was mich besonders glücklich macht ist der hohe Frauenanteil im ISK. In einem Bericht von Willi Eichler im Buch „Ethik des Widerstands“ werden Aktive im Exil genannt (S. 58-59): Klara, Anna, Rudolf, Hans, Emma, Gerhard, Nora, Eva, Erich, Hertha, Bill und Hanna.

Andererseits, wie blind kann man sein? So viele Frauen waren aktiv auf allen Ebenen, und doch wurden sie nicht gesehen. Willi Eichler schreibt in demselben Text über die „Bindungsfrage“ (S. 52), wie störend Frauen und Kinder für die politische Arbeit der Genossen seien. Er schreibt konsequent von „Robert mit seiner Frau“, wenn er Hanna und René Bertholet meint („Robert“ war René Bertholets Deckname).

Nach dem Krieg ging der ISK weitgehend in der SPD und den Gewerkschaften auf. Der Einfluss der ISK-Leute war groß im Verhältnis zu ihrer geringen Anzahl, besonders Willi Eichler ist bekannt. Und die Frauen? Von denen blieb wenig übrig, und dazu wüsste ich gerne mehr. Ich habe vor, die Darstellung von Margot und Ludwig Linsert in den im Web sichtbaren Beiträgen des DGB zu analysieren.

Was lässt sich daraus machen?

  • Der Wikipedia-Artikel zu Margot Linsert steht seit April 2021.
  • Ein Blogpost 😉
  • Am 20. März zeigt der Verein „Gegen Vergessen – für Demokratie“ den Film, in dem Margot Linsert als Zeitzeugin auftritt („Ludwig Koch. Der mutige Weg eines politischen Menschen“) mit Rahmenprogramm, im Laimer Kino „Neues Rex“
  • Dazu wird es ein Begleitheft geben
  • Eine Ausstellung ist angedacht

Internet:

Bücher:

Archive – ich habe wundervolle Unterstützung von allen Seiten bekommen, trotz Corona und obwohl ich keine Historikerin bin:

  • Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, hat den Nachlass der Linserts
  • ifz = Institut für Zeitgeschichte, hat Flugblätter des ISK und den Nachlass von Katrin Seybold (außer den Filmen)
  • filmmuseum, hat Filme und Filmrechte von Katrin Seybold
  • NS Dokuzentrum, hat Kurzbiografien und Rechercheraum, sehr laienfreundlich
  • Friedrich-Ebert-Stiftung, hat viel Material zur Geschichte der Arbeiterbewegung, teilweise allerdings in Bonn

Headerbild: Ausschnitt aus einem Reinhart-Brief, einer ISK-Schrift aus der Zeit der Illegalität

2 Kommentare zu „Margot Linsert, Laimer Widerstandskämpferin

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